Warum wir mehr über mentale Gesundheit reden sollten Treffen sich Weihnachten und meine Depression im Fahrstuhl …

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Ich hasse Weihnachten. Ja ich weiß, viele können das vielleicht nicht verstehen. Ich weiß aber auch, dass viele – und immer mehr Menschen – das ganz genau verstehen. Für die einen ist es „die schönste Zeit des Jahres“ und von Weihnachtsfeier zu Christkindlmärkten, von festlicher Dekoration bis Plätzchen backen, jagt für sie in diesen Wochen ein Highlight das nächste. Dieser Teil freut sich auf die Zeit mit der (Wahl)Familie, auf gemeinsames Essen, Kirchenbesuche … Und dann gibt es eben mich. Und viele, die an meiner imaginären Seite stehen. Ich freue mich für alle, die diese Zeit genießen und wünschte mir manchmal, ich könnte das auch so einfach. Und mein „Problem“ an Weihnachten ist auch gar nicht das Fest an sich, sondern dass es im Dezember gefeiert wird. Denn die letzten fünf Jahre war ich im Dezember depressiv. Und Depressionen und Weihnachten feiern passt halt nicht so gut zusammen. Vor allem nicht, wenn man entfernte Verwandte hat, die dann so etwas sagen wie: “Aber Lu, du musst doch nicht depressiv sein. Du bist noch so jung und so hübsch. Lass das doch einfach mit den Depressionen.” Danke Manfred, da fühl‘ ich mich gleich besser…

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Das Problem? Unwissenheit.

Ich weiß, dass Manfred es nicht böse meint. Er – und viele, viele andere – haben einfach nie gelernt, was eine Depression ist. Oder so ganz generell, psychische Erkrankungen. Oder noch genereller, was mentale Gesundheit ist. Und – Überraschung –, dass er selber auch eine hat. Also, eine Mental Health. Ich habe das Glück und das Pech, Teil einer Generation zu sein, die so viel über mentale Gesundheit weiß, nachdenkt, erlebt wie wohl keine vor ihr. Die aber deswegen zwangsläufig auch mit vielen Menschen zu tun hat, die noch aus einer anderen Zeit stammen. Einer Zeit, in der man über „so was“ nicht gesprochen hat. In dem Tabu und Stigma noch viel größere Rollen hatten als heutzutage. Manfred kann also irgendwie gar nichts dafür, dass er mir mit seinen Sprüchen Weihnachten nochmal extra schwer macht. Er weiß es einfach nicht besser. Und ich habe einfach nicht die Kraft, mich mit ihm hinzusetzen und ihm eine Lerneinheit zu psychische Gesundheit zu absolvieren.

Viele haben einfach nie gelernt, was eine Depression ist. Oder, dass jeder von uns auch eine mentale Gesundheit hat.

Lucia Kleekamm, Mental Health Crowd

Die Lösung? Darüber sprechen.

Aber eigentlich bräuchte es genau das. Nicht nur, damit Manfred besser reagiert. Wenn ich meine psychische Erkrankung erstmalig thematisiere, ganz egal, ob bei einer Familienfeier, mit Freund*innen in einer Bar oder mit Fremden – dann wird es immer ganz still. So als hätte ich gerade erzählt, ich würde regelmäßig Hundebabys in Seen ertränken. Unglaube, teilweise Fassungslosigkeit, verunsicherte und verstohlene Blicke mischen sich mit Neugier und Sensationsgeilheit. Ein Grund dafür, dass das Thema immer noch in eine Ecke gedrängt und nicht angeschaut wird, ist, dass es so wenig greifbar ist. Sich vorzustellen, dass man das Bett nicht verlassen kann und schon der Gedanke daran, sich die Zähne zu putzen, die Kräfte eines Tages übersteigen, ist einfach zu abstrakt. Oder eben, dass man keine Energie für, keine Freude an Weihnachten hat.

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Deshalb: Let’s talk about Mental Health

Was Manfred nicht weiß: dass ich mit meiner unerwünschten und unsichtbaren Begleiterin absolut nicht alleine bin. Dass sich statistisch gesehen jede:r Dritte Mensch in Deutschland mit unter meinen psychisch kranken Weihnachtsbaum setzen kann – wir wären ein bunter Haufen und hätten allerlei Begleiter wie Depressionen, Essstörungen, Schizophrenie, Sucht, Angsterkrankungen, … Und obwohl wir so viele sind, fällt es vielen Menschen immer noch ziemlich schwer darüber zu reden. Über eigene Erfahrungen. Aber auch über Psyche-Themen so ganz generell. Und ich weiß aus eigener Erfahrung: es ist auch oft die einfachere Variante, dem eigenen Kopf und all den (un)weihnachtlichen Dingen darin aus dem Weg zu gehen. Gar nicht erst drüber nachzudenken, wie es uns denn so wirklich geht. Einfach funktionieren. Einfach mitmachen.

Als würde ich regelmäßig Hundebabys in Seen ertränken. So reagieren die Leute, wenn ich beiläufig erzähle, dass ich depressiv bin.

Lucia Kleekamm, Mental Health Crowd

Prävention ist Macht

Und im Grunde haben wir hier schon einen Teil des Problems: dass die meisten Leute mentale Gesundheit gleichsetzen mit psychischen Erkrankungen. Dabei sitzt meine Depression und ihre Krankheits-Kolleginnen nur an einem Ende des Spektrums. Daneben gibt es aber noch ganz schön viel mehr. Genau so wie bei der körperlichen Gesundheit: da gibt es ja auch nicht nur „schwerkrank“ und „Leistungssportler*innen-Fit“ – sondern ziemlich viel dazwischen. Genau so ist es auch, wenn es um unsere mentale Gesundheit geht. Jede*r von uns hat eine. Auch Manfred. Auch wenn gerade nicht Weihnachten ist. Und genau wie wir uns alle täglich – manche mehr, manche weniger – präventiv um unseren Körper kümmern, können wir das auch mit unserem Kopf tun. Nicht nur, weil wir die Wahrscheinlichkeit dann stark verringern, psychisch krank zu werden, sondern auch, weil es unser Heute so viel schöner macht. Immerhin fangen wir ja auch nicht erst an, unsere Zähne zu putzen, wenn sie ausgefallen sind. Eine gewisse Veranlagung dazu, ob wir psychisch krank werden, liegt in unseren Genen. Dazu kommen aber so Dinge wie das Umfeld, in dem wir aufwachsen und auch Dinge, die wir erleben. Vieles davon haben wir nicht so richtig in der Hand. Anderes schon. Zum Beispiel, wie wir mit uns selber umgehen, ob wir unsere Bedürfnisse kennen, unser Umgang mit Stress, Selbstfürsorge, Ressourcen, Nein-sagen, Ziele, …

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Wie geht diese Prävention?

Wenn ich eines aus meiner Erkrankung lernen durfte, dann ist das, dass es sich lohnt vor einer Erkrankung schon mal mit dem Thema in Berührung zu kommen. Denn wenn während einer Depression schon Zähne putzen eine Qual ist, hat man keine Hirnkapazität dafür, Selbstfürsorge in den Alltag zu implementieren. Ich wünschte, ich hätte schon in der Schule von Mental Health gehört. Ob ich gesund geblieben wäre oder eben auch nicht, kann man nie sagen. Trotzdem hätte ich mir so einige anstrengende Therapie- und Aufklärungsstunden in mitten einer depressiven Phase wahrscheinlich erspart. Wie passt man also auf die eigene Psyche auf? Ein Geheimrezept habe auch ich nicht. Jede mentale Gesundheit ist so individuell, wie der Mensch selbst. Doch grundsätzlich gibt es einige Tipps, die ich Euch mitgeben möchte – die mir vielleicht geholfen hätten. Und eigentlich müsst Ihr Euch dafür auch nur was von Eurem Smartphone abschauen:

Prävention und so … 3 Tipps, die helfen können

  1. Wie voll ist dein Akku?: Um zu wissen, wie es um die eigene mentale Gesundheit steht, muss man erst einmal verstehen, wie man das erkennt. Wir bei der Mental Health Crowd fragen deshalb immer nach dem Akkustand. Stellt Euch also einmal vor, Ihr hättet ein kleines Display an der Seite Eures Kopfes und darauf würde eine Zahl stehen, genau wie bei Eurem Smartphone. Welche Zahl würde da gerade stehen? Stellt Euch diese Frage so oft wie möglich und versucht ein Gefühl dafür zu bekommen, wie voll Euer Akku ist. Koppelt den Akku-Check idealerweise an Dinge, die Ihr sowieso tut – Zähne putzen, Treppen steigen, an roten Ampeln warten, … oder sich an Weihnachten auf der Toilette drei Minuten Ruhe abholen.

  2. Was lädt dich auf?: Wenn der Akku-Stand unseres Smartphones unter 20% rutscht wird alles in Bewegung gesetzt, um die nächste Steckdose zu finden. Leider können wir uns selbst nicht so leicht aufladen, wie unser Handy, aber auch wir brauchen Zeiten, in denen wir Kraft tanken können. Aber Obacht: one size doesn’t fit all. Nur weil unsere Freund:In sich nach einem Full-Body-Workout wieder energiegeladen fühlt, heißt das nicht, dass uns das auch auflädt. Und das ist völlig okay. Jeder muss seine individuellen Ladestationen finden. Und manchmal ist es, dass wir uns nach der überstandenen Familien-Weihnachtsfeier was gönnen – ein Treffen mit den Freunden, eine zusätzliche Therapiestunde, das x-te Mal unseren X-Mas-Guilty-Pleasure-Film anschauen (seid Ihr eher Team Stirb Langsam oder Wunder von Manhattan?)

  3. Planen: Nicht nur, aber besonders an Weihnachten ganz schön wichtig: einmal hinsetzen und die Feiertage durchgehen: wo warten Akku-Entlader, wo könnt Ihr Lademöglichkeiten einbauen? Wenn Ihr der anstrengenden Familienfeier nicht entgehen könnt/wollt, wie könnt Ihr diese Stunden möglichst Akkufreundlich gestalten? Gleiches auch abseits von Weihnachten: was steht die kommende Woche an? Wo wird der Akku entladen? Wo kann ich ihn wann wieder aufladen? Denn das Gemeine an der ganzen Geschichte ist: all die Dinge, die uns Energie kosten, sind einfach da. Ob Manfred und seine Sprüche, die Steuererklärung oder die Wäsche, die im Keller auf uns wartet. Die Dinge, die uns Energie geben, müssen wir jedoch aktiv planen, an sie denken, sie priorisieren und uns für sie Zeit nehmen.

Nein, auch diese Tipps sind keine Zaubermittel.

Lucia Kleekamm, Mental Health Crowd

… Mentale Gesundheit ist nicht mit einer Pille oder ein bisschen Yoga automatisch gesund gehalten. Unsere mentale Gesundheit bleibt gesund, wenn wir dran bleiben – das hier ist ein Marathon und kein Sprint.

Ich werde dieses Jahr versuchen, meine Depression möglichst früh in die Mangel zu nehmen. Meine Akku-Lader besonders zu beachten und die Dinge, die meinen Akku entladen so gut wie möglich zu umgehen. Manfred werde ich dieses Jahr glücklicherweise nicht treffen, denn er verbringt Weihnachten auf den Malediven – good for you, Manfred.

Good to know 5 Fakten zur mentalen Gesundheit

Im Schnitt warten Menschen in München gerade 19 Wochen auf einen Termin bei einer Psychotherapeut:In. Das sind fast 5 Monate. Die Kassenärztliche Vereinigung, Krankenkassen und Webseiten, wie therapie.de können einen bei der Suche unterstützen.

Psychotherapie ist eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen und deshalb kostenlos. Um die Beantragung kümmern sich die Therapeut:Innen – da seid Ihr aus dem Schneider.

Nicht jedes Motivationstief und jede wache Nacht macht eine Psychotherapie notwendig. Wenn psychische Symptome aber über einen längeren Zeitraum bestehen und den Alltag beeinträchtigen, sollte man sich Hilfe suchen. Eine erste Einschätzung kann übrigens auch die Hausärzt:In geben.

Sich mit der Psyche zu beschäftigen, beinhaltet nicht unbedingt eine Therapie. Es gibt einige Anlaufstellen in München, wo Ihr Beratung erhalten oder etwas zum Thema lernen könnt.

Quick fixes und Heilversprechen sind Quatsch, auch wenn sie uns zum Beispiel auf Social Media immer wieder in Form von Sätzen á la “in 3 Stunden psychisch gesund”  begegnen. Traut dem Braten bitte nicht.

Über die Mental Health Crowd:
Die Mental Health Crowd ist ein Sozialunternehmen, das seit 2015 verändert, wie über mentale Gesundheit gesprochen wird – überhaupt, offener, früher, normaler. Dabei verbinden sie persönliche Erfahrungen und fachliche Kompetenz mit Humor und Offenheit. In Form von Events, Workshops und Vorträgen bringen sie Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen bei, dem Thema mentale Gesundheit mit mehr Sicherheit, Leichtigkeit und Freude zu begegnen.