Faces of Minga #23 Mit Natascha Sagorski am Mittleren Isarkanal

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Im Juli 2019, beim zweiten Kontrollultraschall, bekam Natascha die Nachricht, dass ihr Kind nicht mehr lebt: „Noch heute höre ich oft den Satz ‚Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden‘. Natürlich habe ich gleich verstanden, was passiert ist, gleichzeitig konnte ich es aber auch kaum fassen. Mein Baby ist in meinem Bauch gestorben und ich habe es nicht bemerkt“, erzählt uns Natascha gefasst. Danach redet sie kaum mit anderen. Weder mit ihrer Mutter noch mit Freundinnen. Nur mit ihrem Mann, der saß ja im gleichen Boot. Am Mittleren Isarkanal in Unterföhring haben die beiden viele lange Spaziergänge gemacht. So wurde der Ort ein ganz besonderer, einer zum Kraft tanken. Genau an diesem Ort treffen wir Natascha und lassen uns ihre Geschichte erzählen.

Eine Frau, ein Schicksal, ein Ort

Es ist 9:30 Uhr an einem kühlen sonnigen Herbsttag. Gleich treffen wir Natascha Sagorski auf einen Spaziergang. Als wir warten, überkommt uns ein leicht mulmiges Gefühl. Wir werden heute mit Natascha über den Verlust ihres ungeborenen Babys und über ihr Buch „Jede 3. Frau“ sprechen, in dem sie Menschen und ihrem Schicksal eine Stimme gibt. Fehlgeburten – ein Thema, für dessen Enttabuisierung sie sich intensiv einsetzt. Können wir einem solchen Thema überhaupt gerecht werden, obwohl wir damit persönlich noch gar keine Berührung hatten?! Mit diesem großen Respekt erfüllt, sind wir gleichzeitig aber auch unendlich gespannt, was Natascha für eine Frau ist und was sie uns erzählen wird. Zwei Minuten später kommt sie in Gummistiefeln und Parka auf uns zu, mit ihrer Hündin Minu, und lächelt uns mit einem breiten Grinsen an. Unsere Anspannung lässt direkt ein bisschen nach.

„Wir haben uns immer vorgestellt, dass diese kleine Seele, die wir verloren haben, uns gerade diese tollen Farben am Himmel schickt.“

Natascha Sagorski

Trost finden in der Natur

Ob es sich irgendwann „normaler“ anfühlt, über solch ein Schicksal zu sprechen, wollen wir von Natascha wissen. „Normal“ werde das wahrscheinlich nie: „Immer, wenn ich über das Buch spreche, spreche ich auch über mich und die Fehlgeburt. Manchmal bin ich selbst überrascht, wie sehr mich das immer noch schmerzt. Es gibt aber auch Tage, da kann ich problemlos drüber sprechen“, verrät uns Natascha. Mit zusammengekniffenen Augen in die Sonne blickend erinnert sie sich: „Als das mit der Fehlgeburt passierte, war es Sommer. Und da gab es immer so einen richtig roten Afrikahimmel am Kanal. Wir haben uns immer vorgestellt, dass diese kleine Seele, die wir verloren haben, uns gerade diese tollen Farben schickt. Das war einfach schön, das hat auch Hoffnung gegeben. Und hier haben wir auch darüber gesprochen, dass wir immer noch einen Kinderwunsch haben und auch weitermachen wollen. Und heute laufen wir halt oft hier mit unseren zwei Kindern.“ 

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Umgehen mit solch einem Verlust

Ausschabung, Schmerzen und Leere – alles Dinge, auf die Natascha definitiv nicht vorbereitet war. Nach den zwei Wochen Sprachlosigkeit, konnte sie sich nach und nach anderen öffnen. Das Öffnen habe ihr zu dem Zeitpunkt unglaublich gut getan: „Ich merkte, dass mein Umfeld voll von Frauen mit Fehlgeburten ist. Nur hatte niemand darüber gesprochen.“ Natascha merkt, dass sie nicht die ist, die versagt hat. Die nichts mehr wert ist oder sich schämen muss. Das sei extrem wichtig im Umgang mit dem Verlust gewesen. Auch ihr Mann konnte sie sehr gut unterstützen. Zusammen haben sie geweint, aber auch viel über die Zukunft geredet, positiv nach vorne geschaut. „Ich bin sehr dankbar dafür, dass er das so mitmachen konnte“, erzählt uns Natascha, immer noch erleichtert. Und wie sie sich sonst geholfen hat? Mit viel Vertrauen und einer möglichst positiven Einstellung. „Wir waren dann bei einer Hochzeit in Italien eingeladen, auf einem Weingut. Normalerweise hätte ich ja keinen Alkohol trinken können. So haben wir es uns da richtig gut gehen lassen, ich habe Carpaccio gegessen und Wein getrunken. Wir haben all das Gute so richtig zelebriert“, berichtet Natascha uns freudestrahlend.

„Ich wollte einfach lesen, dass ich das schaffen kann. Es ging mir um vergleichbare Geschichten, aber auch um den positiven Twist, dass diese Frauen heute wieder lachen können.“

Natascha Sagorski

Weiß das Umfeld, was es tun sollte?!

Wenn wir uns vorstellen, selbst in der Lage zu sein, eine Betroffene zu kennen – ganz ehrlich, wir wären zunächst ein bisschen hilflos. Natascha meint, dass die Umgangsweise ganz unterschiedlich sei. Ihrem engsten Team in der Arbeit habe sie es ziemlich schnell gesagt: „Eine Kollegin hat mir dann am nächsten Tag eine weiße Lilie auf den Schreibtisch gestellt. Das war eine total berührende Geste, ohne große Worte.“ Aber auch einfache Worte – „Es tut mir leid“, „Wenn du reden willst, ich bin da. Wenn nicht, versteh‘ ich das aber auch.“– tun extrem gut. Wichtig ist zu wissen, dass kein Druck von außen da ist, nur Angebote zum Trostspenden. Das sei viel wert. 

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Jede dritte Frau

Eine Fehlgeburt zu haben und darüber zu sprechen ist die eine Sache. Aber ein Buch zu schreiben und das alles mit der Öffentlichkeit zu teilen, ist eine ganz andere. Wir hören hier einer Frau zu, die so offen mit ihrem Schicksal umgeht…wie kann man nur so stark sein?! „Das kam daher, dass mir selbst so ein Buch gefehlt hat“, meint Natascha. Vor allem, da sie am Anfang nicht über ihr Schicksal sprechen konnte, habe sie viel nach Erfahrungsberichten gegoogelt. Weil sie gemerkt habe, dass das Frauen sind, mit denen sie sich identifizieren kann. „Ich wollte einfach lesen, dass ich das schaffen kann. Es ging mir darum, vergleichbare Geschichten zu hören, aber auch um den positiven Twist, dass diese Frauen heute wieder lachen können.“  So ein Buch findet Natascha damals nicht. Deswegen schreibt sie selbst eins. Anfangs fand sie keinen Verlag. Irgendwann kamen aber Julia und Verena von Komplett Media in ihr Leben, die mit viel Frauenpower Lust hatten, das Projekt umzusetzen.

5 Tipps für Betroffene Nataschas Mutmacher und Kraftschenker

  • Egal, was du in dem Moment fühlst, du bist nicht die Einzige. Du hast nicht versagt, nichts falsch gemacht.
  • Wenn du die Kraft hast, tausch dich mit anderen aus oder lese Geschichten von anderen.
  • Versuch dich vielleicht mal an gemeinschaftlichen Kursen wie „Leere-Wiege-Kurse“.
  • Schau nach vorne, aber lass deine Trauer zu. Egal, wann das Kind abgeht: Es war dein Kind und von Tag 1 hast du dich darauf vorbereitet.
  • Wenn du nicht trauern willst oder kannst, ist das auch okay.

 

Ein Buch, um alles zu verarbeiten

Für ihr Buch hat Natascha mit 25 Menschen Gespräche über ihre Erfahrungen und Fehlgeburten geführt – 24 Frauen und ein Mann. Das seien berührende Gespräche gewesen, die ihr viel Kraft gaben. Am Anfang sei es schwierig gewesen, da sie zu dem Zeitpunkt wieder schwanger war. Aber der Austausch habe ihr viel Mut gemacht. Nach ihrem Aufruf haben sich überraschenderweise sehr viele Frauen gemeldet, die über ihre Geschichte sprechen wollten: „Das hat mir gezeigt, wie das Thema in der Gesellschaft brodelt. Ganz viele Frauen waren dankbar, dass sie gefragt wurden. Viele haben mir gesagt, dass sie das Gefühl hatten, niemand will sie hören, denn sie seien lästig“, so Natascha. Und die Geschichte des einzigen Mannes? Im Gegensatz zu den Frauen war es hier viel schwieriger, jemanden zu finden. Bei Männern sei das ein noch größeres Tabuthema, weil noch weniger darüber sprechen würden. „Klar, körperlich ist es nun auch erst mal eine Frauensache. Dem Körper ist es schließlich egal, ob das Kind lebt oder nicht. Er arbeitet einfach weiter, deine Plazenta wird ausgekratzt, du musst mit deinen Hormonen und dem Milcheinschuss klarkommen. Das braucht Zeit zum Heilen. Psychisch und in Bezug auf die Trauer sind aber beide betroffen.“ Die Umsetzung des Buches war wahnsinnig heilsam für die Frauen, den Mann, aber auch für Natascha selbst. Und es versucht, das schreckliche Tabu zu brechen, indem es öffentlich mit dem Thema Fehlgeburt umgeht. 

„Ich teile meine Geschichte, weil es so wichtig ist, anderen zu helfen. Das sind alles Heldinnen. Es gibt so viele Heldinnen.“

Natascha Sagorski

Eine besonders berührende Geschichte 

Und dann ist da Marias Geschichte, die Natascha ganz besonders berührt hat, – weil Maria alles noch gar nicht verarbeitet hat. „Maria hat ihr Baby in Griechenland verloren, es war keine Fehlgeburt wie bei mir ohne Herzschlag. Sie hatte starke Blutungen und Wehen und dann auf der Toilette in einer Praxis ihr Baby geboren. Das Baby ist ihr das Bein runtergerollt, der Arzt kam, hat es genommen und in den Mülleimer geschmissen.“ Natascha fasst sich an den Hals. Ihre Stimme zittert. Auch uns umhüllt eine Gänsehaut aus Schock und Unfassbarkeit. Ganz klar, dass das Maria einfach nicht loslässt. Natascha hat einen Verein für feministische Innenpolitik gegründet, in dem Maria sehr engagiert ist. Getrieben von den eigenen schrecklichen Erfahrungen, setzt sie sich dafür ein, dass sowas niemandem mehr passiert. Mit einer solchen innerlichen Verwundung so viel Kraft aufzubringen, so zu kämpfen…das ist wirklich bewundernswert.

„Viele haben mir gesagt, dass sie das Gefühl hatten, niemand will sie hören, denn sie seien lästig.“

Natascha Sagorski

Aufklärung, Unterstützung, Anlaufpunkte

Bei solchen Geschichten spürt man, wie wichtig der Umgang von medizinischem Personal mit betroffenen Frauen ist. Bei einer Schwangerschaft gebe es immer tausende Broschüren in Praxen, aber keine einzige, bei der es darum geht, wie man eigentlich mit Fehlgeburten umgeht. Obwohl sie ja jeder dritten Frau passieren! „Nicht nur bei meiner Fehlgeburt lief einiges schief, was die klinische Betreuung anging. Bei so vielen Gesprächen habe ich gehört, dass dies leider so oft passiert und wir in diesem Bereich ein strukturelles Problem haben.“ Natascha wurde zum Beispiel nie gesagt, dass ihr auch nach der Fehlgeburt noch Hebammenbetreuung zusteht. Oder: „Nach der Ausschabung in der Klinik lag ich noch blutend auf dem Bett. Und es kam einfach eine Frauenärztin zu mir und meinte, dass ich morgen wieder arbeiten kann, Krankschreibung brauche ich ja nicht.“ Wie kann sowas sein?! In solchen Momenten habe man dann auch nicht die Kraft dazu, etwas zu sagen. Man sei eh schon in einem Zirkel aus Scham gefangen – Baby lebt nicht mehr, Frau nicht mehr wichtig. Diese wirklich absurden Strukturen haben Natascha sehr wütend gemacht. So entstand ihr politisches Engagement.

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Gestaffelter Mutterschutz for the win

Mit dem Drang, politisch etwas zu verändern, hat Natascha eine Petition gestartet, die einen gestaffelten Mutterschutz nach einer Fehlgeburt fordert. Aktuell gilt die Regel: Verliere ich mein Kind in der 23. Schwangerschaftswoche oder früher, habe ich keinen Tag Mutterschutz und muss, je nach Sensibilität des/der Arztes/Ärztin, im schlimmsten Fall am nächsten Tag schon wieder arbeiten. Ab der 24. Schwangerschaftswoche stehen mir bei Verlust 18 Wochen Mutterschutz zu. Eine Grenze, die keineswegs logisch scheint. „Die Staffelung sollte sich am Fortschreiten der Schwangerschaft orientieren und natürlich nicht verpflichtend sein. Manche Frauen wollen auch direkt wieder arbeiten. Keine Frau soll aber direkt wieder müssen!“, so Natascha energisch. Die Petition ist abgelaufen und hat viel Zuspruch gefunden. Mit über 70 000 Mitzeichner*innen hat Natascha bereits im Bundestag mit dem Familienausschuss gesprochen, der das Thema im nächsten Jahr angehen möchte. Mit der Gründung ihres Vereins für Feministische Innenpolitik möchte sie viele Menschen zusammenbringen, die sich für solche Themen einsetzen. Vor Kurzem ist Natascha sogar mit einer Kanzlei vor das Bundesverfassungsgericht gezogen und hat Verfassungsbeschwerde eingelegt. Um die Frauenrechte auch im Gesetz durchzusetzen. Der Spiegel hat dazu einen Artikel und alle wichtigen Informationen für euch.

„Ich bin dankbar. Natürlich nicht für meine Fehlgeburt. Aber dafür, was sie ausgelöst hat.“

Natascha Sagorski

Wünsche und Ziele einer nun glücklichen Mama

„Meine Fehlgeburt hat wahnsinnig viel in Gang gesetzt. Klar, ich will nicht sagen, dass ich für meine Fehlgeburt dankbar bin. Aber für das, was sie ausgelöst hat, bin ich mittlerweile schon dankbar.“ Natascha ist nun glückliche Mama von zwei Kindern. Natürlich war da viel Angst im Spiel bei der zweiten und dritten Schwangerschaft. Nachdem der zweite Ultraschalltermin aber bei beiden vorbei war, konnte sie loslassen und vertrauen. Ihre Wünsche und Ziele für die kommende Zeit? Den Mutterschutz in Etappen in Gesetzesform zu bekommen. Und, dass Frauen diesen, wenn sie wollen, ganz einfach erhalten können und nicht betteln müssen. Langfristig möchte Natascha mit ihrem Verein mehr Frauenrechte und Frauengesundheit erreichen. Eine Lobby für die Frauen erstellen, die keine haben und feministische Innenpolitik vorantreiben. „Ich begegne so vielen starken Frauen, die alle in eine Richtung blicken und gemeinsam was ändern wollen, sich gegenseitig stark machen. Das gibt so viel Kraft, Energie und macht auch glücklich“, sagt Natascha dankbar. 

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